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E-Book

Interventionsstrategien im öffentlichen Raum

Ein Erfahrungsbericht der Straßensozialarbeit mit Erwachsenen in belasteten Wohngebieten

VerlagArchiv der Jugendkulturen Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl130 Seiten
ISBN9783945398265
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Die alte Eckkneipe ist in Berlin fast verschwunden. Denjenigen, die sich früher dort trafen, fehlt meist das Geld für die schicken Lifestyle-Cafés in den schicker werdenden Wohngebieten. Zu Hause kriecht die Einsamkeit durch die Ritzen, wenn Arbeit und Familie den Tag nicht mehr ausfüllen. Treffpunkte im öffentlichen Raum - meist dort, wo das Bier billig ist - werden dann oft zum Dreh- und Angelpunkt verbliebener sozialer Kontakte - und schnell zum Ärgernis der Anwohner*innen, weil Konflikte, Lärm und Schmutz zu Störfaktoren werden. Diese öffentlichen Plätze und Stadtteile, die Streetworker*innen aufsuchen, werden als problematisch wahrgenommen. Ebenso die Menschen, die sich hier treffen. Die Wahrnehmung destruktiver Entwicklungen wie soziale Ausgrenzung und räumliche Verdrängung von Menschen mit geringem Einkommen oder auch die Zunahme Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sind dabei Teil der täglichen Arbeit der Streetworker*innen. Gerade hier aber, wo keine*r so gern hinschaut, treffen wir auch auf eine große Selbstverständlichkeit und Bereitschaft, einander zu helfen und sich in den Kiez einzubringen... Weil uns die SOZIALE Stadtentwicklung wichtig ist, gibt es diese Dokumentation. Es würde uns freuen, wenn aus unserem Engagement der letzten Jahre etwas bleibt und vielleicht etwas Neues entsteht - auf dem mühevollen Weg in eine solidarische Stadtgesellschaft.

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Leseprobe

Das Projekt M.A.N.N.E. F.


Der Projektname M.A.N.N.E. F. bedeutet „Mobile Angebote für Nichterwerbstätige und/oder Nichterwerbsfähige Erwachsene und deren Familien“. Das Projekt M.A.N.N.E. F. wird seit dem 01. April 2008 durch Mittel des Europäischen Sozialfonds (ESF) und des Bezirksamtes Treptow-Köpenick von Berlin gefördert. Aufgabe war es, im Sozialraum Altglienicke ein sozialarbeiterisches Angebot für Erwachsene im öffentlichen Raum zu schaffen. Ausgehend von der offensichtlichen Notwendigkeit einer spezifischen Angebotsstruktur für Erwachsene konnte M.A.N.N.E. F. seine Präsenz bald auch zusätzlich auf das Gebiet Alt-Treptow ausweiten, eine lokale Netzwerkstruktur aufbauen und verschiedene Kooperationen im Feld der Erwachsenenarbeit in Treptow-Köpenick eingehen.

Ausgangslage in Altglienicke

Erstmals im Jahr 2006 ergab sich für Streetworker*innen in Altglienicke die Notwendigkeit, ein spezifisches Angebot für Menschen über 25 Jahre zu schaffen, die zuvor nicht zur primären Adressat*innengruppe von Gangway gehörten. Das Gangway-Team Treptow sah sich vermehrt mit nichterwerbstätigen bzw. nichterwerbsfähigen Erwachsenen konfrontiert, die sich in zunehmendem Maße an unterschiedlichen Plätzen im öffentlichen Raum trafen, die sonst üblicherweise von Jugendlichen frequentiert wurden94. Waren es zunächst nur vereinzelte Erwachsene, die sich an einem der prominenten Trefforte, der sogenannten „Kugel“, zu den Jugendlichen gesellten, gewann diese Entwicklung rasch an Eigendynamik, sodass es zu einer konflikthaften Vermischung beider Szenen kam.

Die Kugel ist ein öffentlicher Platz in einem Neubaugebiet in Altglienicke. Das Wohngebiet entstand in den 1980er Jahren. Für die Angestellten des Flughafens Schönefeld und der staatlichen Airline „Interflug“95 sollte Wohnraum in Arbeitsplatznähe geschaffen werden. Mit der Wiedervereinigung wurden geplante Bauprojekte zur Verbesserung der Infrastruktur eingestellt. Die Bevölkerungsstruktur des Wohngebietes veränderte sich schnell. Wer es sich leisten konnte, zog weg. Andere, vornehmlich sozial benachteiligte Familien, zogen in dieses Gebiet, in dem die Mieten bis dato erschwinglich waren. O-Töne: „Die Gegend, wo ich wohne, find ich zum Schießen. Also, wenn es nach mir gehen würde, wäre ich sofort hier weg. Sofort.“96 „Wir sind jetzt auch umgezogen, hier in der Gegend. Aber die Wohnung haben wir nehmen müssen, weil wir woanders keine gekriegt haben für das Geld. Wir könnten schon auch andere Wohnungen haben, aber die sind noch weiter weg, so in Spandau, Staaken, Marzahn und so.“97 Adressatin, Altglienicke.

Eine nennenswerte kulturelle und soziale Infrastruktur ist bis heute nicht vorhanden. Es gibt sehr wenige Restaurants und Läden; eine Schwimmhalle, Kultureinrichtungen oder ein Kino gibt es nicht. Eine geringfügige Verbesserung der Versorgungslage mit Einrichtungen der Jugendhilfe konnte zwar erreicht werden. Diese decken den tatsächlichen Bedarf jedoch kaum98.

In Spitzenzeiten trafen sich bis zu 20 Erwachsene, vorwiegend Männer zwischen 35 und 65 Jahren – einige mit Vorstrafen – an der Kugel. Die meisten von Ihnen verfügten über eine mehr oder minder gefestigte rechtsextreme Gesinnung99. Ein problematischer Alkoholkonsum und vermehrte Konflikte aufgrund der Vermischung beider Szenen, beeinflussten das Verhalten der Jugendlichen und ihre Erreichbarkeit durch die Streetworker*innen vor Ort. Der starke Einfluss der Erwachsenen auf die ansässigen Jugendlichen ließ begründete Befürchtungen reifen, dass hierdurch eine gravierende Beeinträchtigung der erfolgreichen pädagogischen Arbeit mit den jungen Menschen und des durch jahrelange Beziehungsarbeit gewachsenen Vertrauensverhältnisses zwischen den Jugendlichen und Streetworker*innen zu erwarten war. Zahlreiche Probleme in Bezug auf den Kinder- und Jugendschutz ergaben sich infolge der Vermischung beider Szenen.

Durch die Erwachsenen hatten die Jugendlichen uneingeschränkten Zugang zu Alkohol, Computerspielen und Videos mit pornografischen und gewalttätigen Inhalten, wenn sich die Erwachsenen bei schlechtem Wetter oder in den späten Abendstunden in ihre Privatwohnungen zurückzogen und einige der Jugendlichen mitnahmen. Die Jugendlichen wurden dort auch über Nacht oder über längere Zeit geduldet. Die elterlichen Fürsorgepflichten konnten oftmals nicht ausreichend wahrgenommen werden, da viele der Eltern mit den Alkoholiker*innen befreundet waren und/oder es nicht wagten gegen diese Dynamik Einspruch zu erheben. Der Verdacht sexueller Übergriffe den Jugendlichen gegenüber erhärtete sich im Verlauf der Arbeit100. In einigen Fällen konnten schuldistanzierte Kinder und Jugendliche mit Hilfe der Erwachsenen die vorgebliche Anwesenheit in der Schule in den Wohnungen der Erwachsenen verbringen. Vereinzelte Jugendliche sind von den Erwachsenen dazu angehalten worden, Schulden einzutreiben, die andere Jugendliche bei den Erwachsenen hatten. Die vorherrschende rechtsextreme Gesinnung ist offen propagiert und entsprechende Einstellungen sind bei den Jugendlichen befördert worden101. Unterdessen mangelte es den Jugendlichen an Problembewusstsein. Sie empfanden die Situation als völlig normal und bezeichneten die betreffenden Erwachsenen als Freunde oder gar Ersatzeltern102.

Dieses sich rasch abzeichnende, problematische Ineinandergreifen beider Szenen und die damit einhergehenden Probleme veranlassten das Gangway-Team zu einer ersten Situationsanalyse, aus der sich die dringende Notwendigkeit ergab, mit der Schaffung eines niedrigschwelligen, sozialarbeiterischen Angebots zur Entzerrung der bereits ineinandergreifenden Szenen und speziell zum Auffangen der zum Teil stark verfestigten Problemlagen der erwachsenen Nutzer*innen der Trefforte zu reagieren.

Hierzu wurde dem bereits seit Jahren erfolgreich in der aufsuchenden Jugendsozialarbeit tätigen Gangway-Team ein zweites, speziell für die Arbeit mit Erwachsenen qualifiziertes Team an die Seite gestellt. Das Projekt hatte sich von Beginn an eine Reihe konkreter Ziele gesetzt und für deren Erreichung einen klar definierten Handlungsrahmen erarbeitet.

Ausgangslage in Alt-Treptow

Obwohl die Problemlagen und Lebenswelten unserer Adressat*innen in Alt-Treptow derer in Altglienicke sehr ähnlich sind, unterscheiden sich beide Kieze aufgrund ihrer geografischen Lage. Während die Menschen in Altglienicke nur mittelbar mit Aufwertungs- und Verdrängungsdruck ihrer Wohnumgebung konfrontiert sind, gestaltet sich die Situation in Alt-Treptow seit einigen Jahren anders. Eine rege Modernisierungs- und Neubautätigkeit fördert den massiven Zuzug ökonomisch Bessergestellter, lässt die Mieten rasant steigen und erhöht damit den (Verdrängungs-)Druck auf die alteingesessenen Bewohner*innen. Unsere Adressat*innen sind hier in zunehmendem Maße von Wohnungslosigkeit bedroht.

Verliert jemand aufgrund steigender Miete und/oder Modernisierungsmaßnahmen hier seine Wohnung, wird er eine adäquate neue Wohnung, deren Kosten sich innerhalb der Angemessenheitsgrenze103 der Jobcenter bewegen, nicht finden. Bereits seit geraumer Zeit sind erste Fälle von Menschen bekannt, die in der Hoffnung, in ihrem Kiez eine neue, bezahlbare Wohnung zu finden, zunächst bei verschiedenen Freunden Unterschlupf finden, nach einiger Zeit erfolgloser Suche jedoch keine weiteren Optionen für zeitweise Unterkunft haben. Nach geraumer Zeit der Wohnungslosigkeit ist der Weg in die Obdachlosigkeit nur noch eine Frage der Zeit. Aufgrund der hohen Gefahr von Wohnungslosigkeit fordert die Nationale Armutskonferenz in ihrem Schattenbericht 2012 die „Erstattung der tatsächlichen Wohnkosten in angemessener Höhe, die sich nach dem tatsächlich verfügbaren Wohnraum und den Preisen bei Neuvermietung richtet.“104 Das Problem um bezahlbaren Wohnraum stellt demnach in Alt-Treptow ein permanentes Thema der Beratung und Hilfevermittlung dar. Ein Wohnraumverlust wäre für alle unsere Adressat*innen schwerwiegend; sie würden zu den sozialen Zumutungen, unter denen sie bereits jetzt leben, auch noch aus ihrem sozialen Umfeld gerissen und auch räumlich an den Rand der Stadt verdrängt. Der zusätzliche Druck, der auf unseren Adressat*innen infolge der Aufwertungsprozesse lastet, verschärft die bereits bestehenden psychosozialen Problemlagen noch.

Zielsetzungen und Handlungsrahmen des Projektes


1. Erreichen der erwachsenen Adressat*innen durch das M.A.N.N.E. F.-Team

Nach der Überwindung anfänglichen Misstrauens gelang es den verantwortlichen Mitarbeiter*innen sehr schnell, mit der Gruppe und ihren Mitgliedern in Kontakt zu kommen. Dies wurde insbesondere durch ein offenes, vorbehaltloses Auftreten und durch die schnelle, unkomplizierte und konkrete Umsetzung von Hilfs- und/oder Freizeitangeboten erreicht. Um die Interessenlagen Einzelner und der Gruppe zu...

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