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Odessa: Die wahre Geschichte

Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher

AutorUki Goñi
VerlagAssoziation A
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl400 Seiten
ISBN9783862416172
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Der Name »Odessa« steht für eines der irritierendsten Kapitel der Nachkriegsgeschichte: die massenhafte Flucht namhafter NS-Kriegsverbrecher - unter ihnen Adolf Eichmann, Klaus Barbie und Josef Mengele -, die sich mithilfe eines hoch organisierten Netzwerkes der Gerichtsbarkeit entziehen konnten. Goñis Standardwerk legt erstmals den Blick auf das gesamte Panorama dieser komplexen Operation frei. Hauptaufnahmeland und zentrale Drehscheibe war das Argentinien unter Juan Domingo Perón. Die Fluchthilfeorganisation verfügte über Basen in Skandinavien, Spanien und Italien, aktive Hilfe leisteten Schweizer Behörden - und im Vatikan liefen alle Fäden zusammen. Platz 3 der Sachbuchbestenliste März 2007!

Uki Goñi wurde 1953 in Washington DC als Sohn einer argentinischen Diplomatenfamilie geboren. Während der argentinischen Militärdiktatur berichtete er für die englischsprachige Zeitschrift 'Buenos Aires Herald' über die Menschenrechtsverletzungen des Regimes. Im Jahr 2002 publizierte er nach jahrelange Recherchen in argentinischen, US-amerikanischen und europäischen Archiven sein internationales Standardwerk 'The Real Odessa', welches erstmals das gesamte Panorama einer internationalen Fluchthilfeoperation freilegt, welche es Hunderten von NS-Kriegsverbrechern ermöglichte, nach 1945 in Lateinamerika ein sichere Zuflucht zu finden. Uki Goñi lebt in Buenos Aires und ist als Journalist, Historiker und Musiker aktiv.

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Leseprobe

Einleitung zur deutschsprachigen Ausgabe


Mit der Vergangenheit hat es eine seltsame Bewandtnis, sie verändert sich, je genauer man hinschaut. Die Vergangenheit vermag es, die hartnäckigen Anstrengungen jener zunichte zu machen, die gerne eine Sicht der Dinge festschreiben würden, die sie früher als Repräsentation der Wirklichkeit durchgesetzt hatten. Trotz ihrer passiven Natur weist die Vergangenheit solche Versuche, unser Verständnis zu verdunkeln, zurück. In einem tieferen Sinne ist es natürlich der lebendige Beobachter, der sich verändert, indem er überlieferte Vorurteile aufgibt und den Tatsachen erlaubt, für sich selbst zu sprechen, anstatt sich auf die Interpretation zu stützen, die ihnen im Augenblick ihres Geschehens zuteil wurde.

Aufgrund ihres inaktiven Status bietet sie sich für diese Art geduldigen Studiums an, bei dem wir unser Selbstverständnis in Bezug darauf befragen, wer wir sind, wo wir stehen und wie wir dorthin gekommen sind. Unser Wissen erweitert sich um einen qualitativen Sprung, wenn wir bereit sind, diese Fragen an uns selbst zu stellen.

Die Gegenwart hingegen verweigert sich solch einer geduldigen Analyse. Kilometer bedruckten Papiers, Ozeane vergossener Tinte und die ganze Bandbreite der elektronischen Medien werden ihr tagtäglich gewidmet. Aber dieser Sturzbach an Informationen vermag unseren unbezähmbaren Appetit auf das, was wir pathetisch die »Wahrheit« nennen, nicht zu stillen. Die Wahrheit ist eine schwer zu fassende Kategorie, die hinter dicken Mauern verborgen ist, hinter denen sie nur in der trügerischen Verkleidung von Nachrichtensendungen, Leitartikeln oder regierungsamtlicher Propaganda hervortritt. Im Ergebnis haben die meisten von uns das Gefühl, im Hinblick auf die aktuellen Ereignisse regelmäßig belogen zu werden.

Das Studium der Vergangenheit erlaubt uns dagegen, die mystifizierende Maske, die über die Ereignisse in der Hitze ihres Geschehens gestülpt wird, abzustreifen. Wenn genügend Ausdauer und Interesse gegeben sind, vermag wagemutige Forschung die vergangene Geschichte zu entmystifizieren. Die Vergangenheit kommt uns dann zur Hilfe, lehrt uns, wie wir die Lügen, die uns heute erzählt werden, als solche erkennen können, weil sie in ihrem Charakter denen höchstwahrscheinlich sehr ähnlich sind, die uns gestern täuschten.

Der Beweggrund dieses Buches ist die Suche nach diesem flüchtigen Gral, der »Wahrheit«, um zu beweisen, dass so ein Territorium existiert. Diese Arbeit ist von keinem besonderen Interesse an dem perversen Phänomen des Nazismus inspiriert, so faszinierend es für jene, die es studieren, auch sein mag. Ihre Triebfeder ist auch nicht eine spezielle Animosität oder Sympathie gegenüber dem General Juan Domingo Perón, dem Mann, dessen Schatten auch 32 Jahre nach seinem Tod weiterhin die politische Bühne Argentiniens beherrscht, in kaum geringerem Maße als zum Zeitpunkt, zu dem er 1943 mit Evita an seiner Seite die öffentliche Arena betrat.

Was dieses Buch zu demaskieren sucht, ist die Existenz einer zentralen Lebenslüge in unserer Vergangenheit. Und wenn es uns gelingt, nachzuzeichnen, wie dieses Trugbild geschichtsmächtig werden konnte, sind wir vielleicht gegen gleich geartete Versuche gewappnet, die unser Verständnis der heutigen und zukünftigen Zeit trüben könnten.

Jahrzehntelang hat sich Argentinien geweigert, die wahre Rolle, welche die politischen Führer des Landes bei der Massenflucht von Nazis und ihren Kollaborateuren nach dem Zweiten Weltkrieg spielten, zuzugeben. In der »offiziellen Geschichte«, wie sie an Schulen und Universitäten gelehrt und von der politischen Bühne verkündet wird, wird jeder Hinweis auf die Beteiligung der argentinischen Regierung an dieser Operation sorgfältig vermieden. In den 1980er- und 1990er-Jahren erschien eine Reihe durchaus seriöser historischer Untersuchungen, sowohl von argentinischen wie auswärtigen Akademikern, welche die offizielle Darstellung unterstützten und die argentinische Regierung von jeder Verantwortung bei diesem schändlichen Unternehmen freisprachen.

Indem sie vertrauensvoll auf dieser falschen Grundannahme aufbaute, gab die argentinische Regierung im Jahr 1999 einen »Abschlussbericht« über die Einreise von Nazis heraus. Der Bericht listete eine Gesamtsumme von 80 Kriegsverbrechern auf (die wirkliche Zahl liegt viel höher), die in Argentinien einen sicheren Unterschlupf gefunden hatten, fast ohne ein Wort über den argentinischen Anteil bei ihrer Flucht zu verlieren.

Der Abschlussbericht schwieg sich ebenso über Argentiniens Geheimerlass gegen die Einreise jüdischer Flüchtlinge während und nach dem Ende des Krieges aus. Um die Existenz dieses Erlasses zu verschleiern, ging die argentinische Regierung im Jahr 2001 sogar so weit, eine Gedenktafel an der Wand des Außenministeriums anzubringen, auf der zwölf argentinische Diplomaten wegen ihrer angeblichen »Solidarität« mit Juden in Europa posthum geehrt wurden.

Die Veröffentlichung der englischsprachigen Originalausgabe dieses Buches im Jahr 2002 in London war deshalb für viele rund um den Globus ein Schock, die den Ergebnissen des Abschlussberichts vertraut hatten und die Anbringung der Gedenktafel unterstützt hatten.

Von den Enthüllungen des Buches aufgerüttelt, bat mich Mark Weitzman vom Wiesenthal Center in New York, eine Liste von Akten mit Nazi-Bezug zu erstellen, die meines Erachtens von der argentinischen Regierung freigegeben werden sollten. Ich war in der Lage, 58 Geheimakten aufzuführen. Bei einigen handelte es sich um Dokumente, zu denen ich unautorisierten Zugang erhalten hatte und die der Öffentlichkeit weithin nicht zugänglich waren, von anderen Dokumenten wusste ich, dass sie existierten, ohne dass es mir gelungen wäre, sie einzusehen.

Das Wiesenthal Center ging im Dezember mit seinem Aufruf an die Öffentlichkeit. Bis zum heutigen Tag wurden nur drei der 58 Dokumente vorgelegt. Von anderen 26 heißt es, sie seien bereits vor langer Zeit vernichtet worden. Zieht man die politischen Hindernisse und die bürokratischen Hürden in Betracht, ist die Erfolgsquote von 3 zu 58 fast schon akzeptabel.

Der Aufruf bezog sich als Herzstück auf 49 Dossiers der Einwanderungsbehörde (Geheimakten des Typus, wie sie in Kapitel 9 beschrieben werden), welche die Einreise notorischer Kriegsverbrecher wie Adolf Eichmann und Josef Mengele sowie weiterer verdächtiger Personen dokumentierten. Während meiner Recherche war es mir gelungen, die Aktenzeichen dieser Dossiers festzustellen. Die Nummer 231489/48 zum Beispiel bezieht sich auf die Einreiseakte Adolf Eichmanns. Meine Bitte, mir Zugang zu den Dokumenten zu gewähren, wurde vom damaligen Direktor der Einwanderungsbehörde rundheraus abgelehnt. Erst nachdem die New York Times in einem ganzseitigen Artikel berichtet hatte, dass Argentinien sich weigerte, diese Akten freizugeben, und nachdem eine Gruppe von Abgeordneten eine Resolution im US-Kongress eingebracht hatte, die den Appell des Wiesenthal Centers unterstützte, sah sich die argentinische Regierung im Juli 2003 zu einer Reaktion veranlasst.

Schließlich gab die Einwanderungsbehörde zwei der beantragten 49 Dossiers heraus. Eines bezog sich auf einen weniger bekannten belgischen Kriegsverbrecher, bei dem anderen handelte es sich um eine dicke Akte (72513/46, die im Kapitel 15 erwähnt wird), welche die Einreise einer großen Zahl kroatischer Verbrecher ermöglicht hatte. Ich hatte während der Recherche für dieses Buch einen beträchtlichen Aufwand an Zeit und Energie bei der Suche nach dieser Akte investiert. Ich war sehr aufgeregt, sie endlich in den Händen zu halten. Auch der Beamte der Einwanderungsbehörde, der angewiesen worden war, sie mir vorzulegen, reagierte äußerst betroffen – allerdings aus diametral entgegengesetzten Gründen. »Sie wird das Ansehen des Generals Perón beschädigen«, jammerte er, wobei ihm buchstäblich eine Träne über die Wange lief. Für den alten Peronisten, der sein Büro mit Fotos Evitas geschmückt hatte, war es ein qualvoller Augenblick. Wie sich herausstellte, handelte es sich um ein extrem kompromittierendes Dokument, das nicht nur die Unterstützer Peróns, sondern auch die katholische Kirche ernsthaft in Verlegenheit brachte. Es belegte u.a., wie Perón und der argentinische Kardinal Santiago Copello bei der Einreise einiger der übelsten kroatischen Massenmörder nach Argentinien zusammengearbeitet hatten.

Die Einwanderungsbehörde gestand auch, dass 26 der 47 angeforderten Dossiers in den 1950er- und 1960er-Jahren verbrannt worden waren. Über die verbleibenden 21 Dossiers legte sie keine Rechenschaft ab. Unter ihnen befanden sich die Einwanderungsakten der zwei wichtigsten Kriegsverbrecher, die in Argentinien Zuflucht gefunden hatten, Eichmann und Mengele, sowie die Akten weiterer bekannter SS-Männer wie Klaus Barbie und Hans Fischböck. Ein besonders befremdender Fall ist die Einwanderungsakte des SS-Mörders Josef Schwammberger, eines ehemaligen Kommandanten von NS-Arbeitslagern, der für...

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