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E-Book

Papa, was ist ein Terrorist?

AutorTahar Ben Jelloun
VerlagBerlin Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl128 Seiten
ISBN9783827079206
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Tahar Ben Jelloun verlor mit den Zeichnern Cabu und Wolinski zwei Freunde und mit der Fotografin Leila Alaoui eine Angehörige durch den islamistischen Terror. Jetzt stellt sich der in Paris lebende Schriftsteller marokkanischer Herkunft den Fragen seiner Tochter und erklärt in verständlichen, einprägsamen Worten, wie wir eine der größten Bedrohungen unserer Zeit verstehen können: Was lehrt die weltweite Geschichte des Terrorismus? Wie kann sich eine Demokratie gegen den Terror wehren? Ist die Verhängung des Ausnahmezustands gerechtfertigt? Ben Jelloun erklärt die Rolle der Religion, analysiert die Bedeutung der Propaganda im Internet und beschreibt die Motive der Täter. Angst ist unvermeidlich, stellt er als Betroffener fest. Aber der Angriff auf unsere Lebensweise darf unsere Kultur der Vernunft und gegenseitigen Akzeptanz nicht erschüttern.

Tahar Ben Jelloun, geboren 1944 in Fès (Marokko), lebt in Paris. Er gilt als bedeutendster Vertreter der französischsprachigen Literatur des Maghreb. 1987 wurde er mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, 2004 mit dem renommierten  International IMPAC Dublin Literary Award. Im Jahr 2011 wurde ihm der Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis verliehen. Seine Sachbücher »Papa, was ist ein Fremder?« (2000), »Papa, was ist der Islam?« (2001, Neuauflage 2013) und »Arabischer Frühling« (2011) waren Bestseller. Mit Cabu und Wolinski, die bei dem Attentat auf Charlie Hebdo ermordet wurden, verlor Ben Jelloun zwei Freunde.

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Leseprobe

Vorwort: Leben mit dem alltäglichen Schrecken

In den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts waren mehrere europäische Länder mit einer nationalen Form von Terrorismus konfrontiert, der eine revolutionäre Ideologie für sich beanspruchte. Isolierte Einzelne schlossen sich zusammen, um »das imperialistische Herrschaftssystem zu vernichten, zu zerstören, zu zerschlagen – politisch, ökonomisch, militärisch«, wie Ulrike Meinhof am 13. September 1974 vor Gericht erklärte. Die italienischen Brigate Rosse und die französische Action Directe lagen auf der gleichen Linie. Der Staat war der Feind. Die Anschläge zielten nicht speziell auf Zivilisten ab beziehungsweise nur auf solche, die die Attentäter als Symbole oder Vertreter von Staatsmacht oder Kapital ansahen. In Deutschland hatte die Rote Armee Fraktion (RAF) zum Beispiel den Arbeitgeberpräsidenten, BDI-Vorsitzenden und ehemaligen Nationalsozialisten Hanns Martin Schleyer als Geisel genommen und am 18. Oktober 1977 hingerichtet. In Italien hatten die Roten Brigaden im März 1978 den konservativen Politiker und ehemaligen Ministerpräsidenten Aldo Moro entführt und wenige Wochen später ermordet. In Frankreich hatten Mitglieder der Action Directe den Chefmanager von Renault Georges Besse am 17. November 1986 exekutiert. Dies waren einige der spektakulärsten Anschläge. Die Mordserie der RAF reichte bis in die neunziger Jahre hinein.

Jener Terrorismus griff die Symbole des »bürgerlichen Staates« an. Ein Exportartikel war er nicht. Er schaffte es ebenfalls nicht, eine anhaltende allgemeine Psychose in der Bevölkerung auszulösen. Die Polizei und die Geheimdienste konnten dieses Phänomen im Wesentlichen erfassen, die Gruppen wurden geschwächt, viele Täter vor Gericht gestellt und verurteilt.

Heute hat der Dschihadismus genannte, sich auf den Islam berufende Terrorismus deutlich andere und von vornherein internationale Ambitionen. Es ist gesichtsloser Terror, der überall auftreten kann. Er verbreitet sich über Grenzen und kulturelle Unterschiede hinweg. Deshalb ist kein Land, ob islamisch oder nicht, gefeit vor mörderischen »blinden« Anschlägen. Zudem wählt dieser Terrorismus bewusst Menschenansammlungen als Angriffsziele aus. Man sagt, er ist blind, weil er, wo immer es möglich ist, zuschlägt.

Auch Deutschland ist vom islamistischen Terror nicht verschont geblieben. Bereits der 2002 erfolgte Anschlag auf eine Synagoge im tunesischen Djerba tötete vierzehn deutsche Touristen, und acht weitere kamen beim Attentat im historischen Zentrum von Istanbul am 12. Januar 2016 ums Leben. Die konkrete Terrorgefahr im Inland bewiesen die versuchten Sprengstoffattentate auf ein israelisches Verkehrsflugzeug in Frankfurt am Main, auf zwei Züge am Kölner Hauptbahnhof sowie die geplanten Angriffe auf jüdische Einrichtungen in Düsseldorf und Berlin und die Anschlagsvorbereitungen der Sauerland-Gruppe. Zum anderen sind laut Deutsche Welle mindestens 750 Deutsche nach Syrien ausgereist, und 300 sollen bereits zurückgekehrt sein. Aber erst im Sommer 2016 gewann durch eine rasche Abfolge von Ereignissen das Gefühl einer ständigen unmittelbaren Bedrohung ein ähnliches Ausmaß, wie es die Terroranschläge in Frankreich und Belgien hatten erzeugen können. Zehn Tage nach dem verheerenden Attentat in Nizza vom 14. Juli 2016 kam es zu dem Amoklauf eines achtzehnjährigen Schülers in München, der – ungeachtet der tatsächlichen Motivation des Täters, dessen Opfer durchweg einen Migrationshintergrund hatten – Angst und Panik vor einem großangelegten islamistischen Anschlag hervorrief und so dem IS in die Hände spielte. Innerhalb weniger Tage folgten am 18. Juli der Angriff in einem Regionalzug bei Würzburg und am 24. Juli das Sprengstoffattentat in Ansbach. In beiden Fällen gab es kurz vor den Taten Kontakt zu mutmaßlichen Hintermännern im Nahen Osten; der Attentäter von Ansbach erhielt offenbar, noch unmittelbar bevor er sich in die Luft sprengte, konkrete Anweisungen. Das alles beweist, dass der IS Deutschland als »Land von Kreuzzüglern« ansieht, das heißt als christliche Bastion, und es daher Zielscheibe des Terrorismus ist.

Warum? Weil dieses Land ein Grundpfeiler Europas ist und aufgrund seiner Geschichte auch als wichtiger Verbündeter Israels gilt, auch wenn Kanzlerin Merkel sich gegen die israelische Kolonisierungspolitik im Westjordanland ausgesprochen hat. Trotz seiner verhältnismäßig geringen Beteiligung an der militärischen Koalition, die die Stützpunkte des »Islamischen Staates« (IS) in Syrien und im Irak bombardiert, wird Deutschland als westlicher Staat nicht anders gesehen als jene Länder, die wie Frankreich durch ihr militärisches Vorgehen oder ihre koloniale Vergangenheit exponierter erscheinen mögen. Die Aussagen des IS sind hier vollkommen unzweideutig: »Ganz Europa ist schuldig, den Islam und die Muslime für schlecht zu halten.«

Bekanntlich dient die Stadt Ulm Dschihadisten aus mehreren europäischen Ländern als Rückzugsgebiet. Vielleicht hegen diese Leute im Moment keine unmittelbaren Pläne, Anschläge zu begehen, doch zu jedem Zeitpunkt können sie Befehle aus Syrien oder dem Irak unhinterfragt ausführen. Sie bestimmen die Politik des IS in keiner Weise. Sie werden als »Schläferzellen« angesehen, wie sie überall in Europa verstreut sind. Mit den Attentaten von Orlando, von Nizza oder dem Axt-Angriff bei Würzburg deutete sich eine neue Entwicklung an. Das Schlimmste ist eingetreten: Es ist gar nicht mehr nötig, der unsichtbaren Armee offiziell anzugehören. Wer auch immer kann als »Soldat des IS« einspringen und Massaker begehen. Bewies der IS schon bisher mit Attentaten großen Ausmaßes wie in der Türkei (28. Juni 2016), in Bangladesch (1. Juli 2016), im Irak (3. und 8. Juli 2016) und in Saudi-Arabien (4. Juli 2016) – wo man es wagte, Medina anzugreifen –, dass er imstande ist, die Initiative zu behalten, steigert diese Entwicklung seine Fähigkeit noch, einen weltweiten Krieg gegen die zivilisierte Welt zu führen.

In Deutschland leben vor allem türkische Einwanderer. Es hat sich lange damit schwergetan, sich als Einwanderungsland zu begreifen. Der Umgang mit den Migranten ist »differentialistisch«, das bedeutet, man erkennt die kulturellen Besonderheiten der Einwanderer an und verlangt, bei allen vor allem in letzter Zeit erhobenen Forderungen nach Integration, keine Assimilation an deutsche Kultur und Tradition.

Mit dem Zustrom Hunderttausender Flüchtlinge im Jahr 2015 stieg auch die Zahl marokkanischer Migranten sprunghaft an. Bis dahin waren es etwa 140 000, von denen die meisten seit 1963 als »Gastarbeiter« nach Deutschland gekommen waren. Von Marokko aus wird die Situation der Einwanderer im Vergleich zu jener in Frankreich eher positiv gesehen. Die meisten aus Marokko stammenden Migranten in Deutschland kommen aus dem Norden, vor allem aus dem Rifgebirge. Oft glauben wir Marokkaner – vielleicht zu Unrecht – eine Ähnlichkeit zwischen dem Temperament der Berber aus dem Rif und dem der Deutschen zu erkennen. Die Leute aus dem Rif werden oft als »hart, streng, aufrecht, stolz, sehr in ihre Herkunft verwurzelt« gesehen. Das sind natürlich Klischees. Ob in Tanger oder Al Houceïma, Tétouan oder Nador, die »deutschen« Migranten, die ihren Sommerurlaub zu Hause in Marokko verbringen, sind beliebt, denn sie scheinen reicher als die anderen zu sein und bleiben ihren Wurzeln treuer. Sie schicken auch das meiste Geld zurück nach Marokko. Das bedeutet, dass sie sich als Marokkaner fühlen, genauer gesagt, als Menschen aus dem Rif. Sie sind für ihren rebellischen Geist und ihre Strenge bekannt. 1924 hatte ihr Anführer Abdelkrim al-Khattabi in einem monarchistischen Marokko die »Republik der Stämme des Rifs« ausgerufen. 1958 wurde ein Aufstand der Bevölkerung des Rif vom damaligen Kronprinzen, dem zukünftigen König Hassan II., gewaltsam im Blut erstickt; bereits damals stand ihm General Oufkir zur Seite, der später, 1971 und 1972, zweimal versuchen sollte, ihn zu stürzen.

Die ersten Generationen von Migranten, die seit den sechziger Jahren nach Deutschland kamen, waren voll des Lobes über Deutschland. Wie sieht es bei ihren in Deutschland geborenen Kindern aus? Da stellt sich das Problem anders: Sehen sie sich als Deutsche oder Rifberber? Im Sommer hört man sie an marokkanischen Stränden Deutsch miteinander sprechen; doch die Frauen sind oft verschleiert. Ich sprach mit einigen von ihnen; sie fühlten sich nicht völlig integriert, aber lobten Deutschland, das sie »gut behandelt« im Gegensatz zu Frankreich, wo der antiarabische Rassismus überall spürbar ist. Doch seither hat sich aufgrund des Aufkommens von Pegida und AfD, die für ihren Hass auf den (und nicht Angst vor dem) Islam bekannt sind, einiges verändert.

Die Ereignisse der Silvesternacht 2015 am Kölner Hauptbahnhof, wo Frauen von angetrunkenen Einwanderern aus Nordafrika sexuell belästigt und angegriffen wurden, haben zu einer Welle der Ablehnung gegen Migranten geführt, die so weit ging, dass Merkel ein paar Tausend von ihnen nach Marokko ausweisen ließ, was die marokkanische Regierung akzeptierte; sie bestand jedoch auf der Überprüfung ihrer Papiere und Herkunft, denn unter ihnen waren viele Algerier. In der Vorstellungswelt vieler Europäer bleibt ein sehr negatives Gefühl gegenüber marokkanischen Männern. Das Viertel Oberbilk am Düsseldorfer...

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